Angkor Wat:

Weltkulturerbe mit Schusslöchern

Kambodscha gehört zu den geschundetsten Ländern der Welt. Gleichzeitig birgt es einen spektakulären Reichtum: Angkor. Ein Ort für Götter und Hollywoodstars – und vor allem für Touristen.



Als der französische Forscher Henri Mouhot im Januar 1860 auf eine riesige Tempelanlage im Dschungel von Kambodscha stößt, ist er überwältigt. „Ein Werk von Giganten“, notiert er in sein Tagebuch,


 „...größer als irgendetwas, was Griechen und Römer uns hinterlassen haben.“ Die Akropolis und das Kolosseum in Ehren – aber wer selbst schon mal Angkor besucht hat, wird der Einschätzung Mouhots kaum widersprechen wollen.    
Schon gar nicht Khin Leang. Während der junge Khmer in Stoffhosen, hellem Hemd und Turnschuhen durch die Tempel und Ruinen Angkors läuft, ist ihm der Stolz auf den größten Schatz seines Landes in jedem Satz anzuhören – auch wenn er die Fakten und Legenden über das architektonische Wunder nicht zum ersten Mal erzählt, schließlich ist er Touristenführer. Und es sind viele Fakten und Legenden.
„Jeder Stein hier hat eine Geschichte“, sagt der drahtige 30-Jährige und hebt die Augenbrauen über seinen dunklen Knopfaugen. Auch Khin Leang hat eine Geschichte. 
Die Historie von Angkor, die Vergangenheit Kambodschas und das Schicksal von Khin Leang: Diese drei Geschichten sind am Eingangstor von Angkor Wat eingemeißelt. Es sind zwar nur ein paar zentimetergroße Kerben im steinernen Torbogen, aber sie erzählen viel über das Land und die Menschen. Die Kerben stammen von Gewehrkugeln. Angkor ist ein Weltkulturerbe mit Schusslöchern.

Touristenführer mit Kriegserfahrung


Zwischen den Tempeln, wo heute die Touristen durchströmen, wurde bis vor einigen Jahren noch gekämpft. Khin Leang war dabei. Nicht hier, auf dem Gelände des heutigen Weltkulturerbes, aber bei den Gefechten auf den umliegenden Reisfeldern und im Dschungel. Als er 16 Jahre alt war, drückten ihm die Armeegeneräle ein Gewehr in die Hand. In Kambodscha herrschte Bürgerkrieg. Damals, Mitte der Neunziger, bäumten sich die Roten Khmer wieder auf – jenes Regime, das unter Pol Pot in den Siebziger Jahren fast zwei Millionen Menschen ermordet hatte.
Der jüngste Krieg in Kambodscha endete mit der endgültigen Niederlage der Roten Khmer. Khin Leang überlebte diese letzte Schlacht. Sein Bruder und seine Schwester nicht. Um das Erlebte zu verarbeiten, zog sich Khin in ein buddhistisches Kloster zurück und lebte als Mönch. Er habe viele Bücher in dieser Zeit gelesen, erzählt er, Bücher über Politik und Geschichte. Eine Antwort, warum in seinem Land soviel Blut vergossen wurde, habe er darin nicht finden können. Nach acht Jahren fühlte er sich endlich bereit, die schützenden Mauern des Klosters zu verlassen. Für junge Männer wie ihn gab es neue Perspektiven in Kambodscha.

Ein Ort der Superlative


Es herrschte nun ein stabiler Friede, und mit jedem Jahr waren mehr Besucher aus dem Ausland gekommen. Das Jahr 2013 ist ein Rekordjahr. Allein von Januar bis Juni 2013 wurden 1,12 Millionen Besucher registriert. Das sind sechs Prozent mehr als in der gleichen Zeitspanne im letzten Jahr. Thaizeit berichtete...


Fast alle wollen Angkor sehen. „Das Werk von Giganten“, wie Mouhot es beschrieb, wurde vom 9. bis zum 13. Jahrhundert errichtet und galt als Ort der Superlative. Im zwölften Jahrhundert lebten hier über eine Millionen Menschen, die Kapitale des Khmer-Reichs war die größte Stadt der Erde – zu einer Zeit, wo im Sumpfgebiet um Manhattan noch die Frösche quakten.
Heute herrscht in Angkor fast wieder soviel Betriebsamkeit wie zu den Glanzzeiten, bloß sind es nun Touristen und nicht Khmer, die das weitläufige Gelände bevölkern. Die meisten von ihnen kommen aus Korea, weshalb Khin Leang seine Routen gemäß ihrer Abläufe geplant hat. „Wenn die Koreaner Mittagspause machen hat man am meisten Platz, sich alles in Ruhe anzuschauen“, sagt er.

Hollywood-Darling aus Stein


Um zwölf Uhr mittags steht er also vor Ta Prohm. Ein Name reicht, und die Besucher sind im Bilde: Angelina Jolie. Das Klostergebäude Ta Phrom diente im Jahr 2000 als Kulisse für den Hollywood-Streifen „Tomb Raider“, in dem sie die Hauptrolle spielte. Der Blockbuster brachte Angkor scharenweise neue Besucher und mittlerweile ist die Bezeichnung „Tomb-Raider-Tempel“ beinahe geläufiger als „Ta Phrom“. Übrigens sehr zum Unmut gläubiger Inder, die, wenn sie dieses ehemalige Hindu-Kloster besuchen, nichts von Angelina Jolie hören wollen. „Die werden sehr ärgerlich, wenn man davon zu erzählen beginnt“, sagt Khin Leang.
Aber Hollywood konnte dieser Ort nicht verborgen bleiben – Ta Phrom ist wie geschaffen für die große Leinwand: Auf den Ruinen des alten Klosters ragen Würgefeigen in den Himmel, deren Wurzeln zwischen den Mauern zerfließen und sich wie Krakenarme über die Steine legen. Riesige dreidimensionale Gesichter zieren die Turmwände. Alles scheint wie aus der Phantasie eines Salvador Dalí entsprungen. Gleichzeitig bietet sich hier ein Bild der Zerstörung.
Große Teile des Gebäudes sind eingestürzt, die Pfade durch das alte Kloster führen an Schutthaufen mit klobigen Steinquadern vorbei.  Nur über Holzstege gelangen die Besucher an einigen Stellen sicher durch die wackeligen Überreste. Das pittoreske Chaos ist kalkuliert: Als die Archäologen der französischen Kolonialherrscher am Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Restauration Angkors begannen, wählten sie Ta Phrom als Zeugnis des Zerfalls aus. Hier sollte alles so bleiben, wie es gefunden worden war.

Die Gründe für den Untergang


Die Entscheidung der Forscher hat sich als weitsichtig erwiesen, denn an keiner anderen Stelle wird der Untergang des mächtigen Khmer-Reichs anschaulicher verdeutlicht als an diesem überwucherten Bauwerk. Angkor, einst die Metropole Südostasiens, ist im Laufe der Jahrhunderte einfach vom Dschungel verschluckt worden. Wie konnte das geschehen?
Khin Leang, der Touristenführer mit Kriegserfahrung, zählt als Antwort die vielen Konflikte auf, die das Königreich zu überstehen hatte. Von Innen gilt das vor allem für die Rivalität zwischen den Religionen. Obwohl es ein besonderes Merkmal Angkors war, dass hier Hinduismus und Buddhismus miteinander verschmolzen, wurden im 13. Jahrhundert ein Großteil der auf 10.000 geschätzten Buddha-Statuen von Hindus zerstört.
Nach außen waren es ab dem 14. Jahrhundert vor allem die Vorfahren der Thais, gegen die sich die Khmer zur Wehr setzen mussten. In der Chronik der Stadt ist vermerkt, dass im Jahr 1431 die Soldaten des Ayutthaya-Reichs Angkor eroberten und für kurze Zeit besetzt hielten. Khin Leang erzählt genüsslich die Geschichte, wie die Khmer den König von Ayutthaya wissen ließen, dass sie ihr Territorium wieder zurückerobert hatten: Indem sie ihm den Kopf seines Statthalters in einer Schachtel verpackt zukommen ließen.


Klimakatastrophe und Machtverlust

Trotz der erfolgreichen Vertreibung der Gegner verlegte der König der Khmer kurz darauf seine Residenz weiter nach Süden. Dorthin, wo heute noch die kambodschanische Hauptstadt Phnom Penh liegt. Der Umzug stand damals vermutlich in ökonomischen Zusammenhängen, da die Lage der neuen Kapitale zum Mekong für den Handel von hoher Bedeutung war. Damit verlor Angkor seinen Status als Machtsitz. Eine weitere mögliche Antwort auf die Frage, warum die Pracht Angkors ein jähes Ende fand, haben Wissenschaftler im März 2010 gefunden – mit Hilfe von Bäumen aus Vietnam. Durch eine Untersuchung der Baumringe konnten sie das regionale Klima vom Jahr 1250 bis zur Gegenwart rekonstruieren. Dabei stellten sie fest, dass im 13. und 14. Jahrhundert jahrzehntelange Dürreperioden herrschten. Für die dichte Besiedelung Angkors bedeutete dies einen Ausfall lebenswichtiger Ernten. Auf die lange Trockenphase, so die Analyse der Wissenschaftler, folgten heftige Monsunregenfälle. Der Niederschlag ließ das ausgeklügelte Bewässerungssystem Angkors überschwemmen und zerstörte es. Also war es vielleicht eine Klimakatastrophe, die die hochentwickelte Zivilisation Angkors in den Untergang führte. Eine Lektion in Demut: Auch das hat ein Besuch Angkors den Touristen zu bieten.

Lange Schlangen vor dem Göttersitz

Auf die Bedeutung der Wassergräben hat Khin Leang während seiner Führung mehrmals hingewiesen, am Nachmittag dann schaut er ehrfürchtig auf den breitesten von ihnen. „Dieser Wassergraben symbolisiert den Ur-Ozean“, sagt er und hebt den Blick auf das andere Ufer. Dort liegt Angkor Wat, das Zentrum Angkors, die größte Tempelanlage der Welt.   Die Brücke, die über das Wasserbecken in das Innere des Tempels führt, ist so lang, dass Khin unterwegs die Architektur der Anlage in Ruhe erklären kann. Trotz ihrer gigantischen Ausmaße ist sie selbst nur ein Miniaturmodell und spiegelt die Sicht der Hindus auf das Universum wider. Ein Werk von exakter Symmetrie: Über dem erwähnten Ur-Ozean erheben sich fünf Türme, die einer Gebirgskette ähneln und den Himalaya darstellen. Der höchste der Türme symbolisiert den Berg Meru, den Sitz der Götter. Vor Meru hat sich eine lange Schlange von Touristen gebildet. Sie warten vor einer Treppe, um in die Götterwohnung hinaufsteigen zu dürfen. Angesichts der Plastikflaschen, die im Ur-Ozean dümpeln und zweifelsfrei von Menschenhand entsorgt wurden, wünscht man sich, dass dem Einen oder Anderen dort oben seine gerechte Strafe widerfährt.

Tempeltänzerinnen in deutscher Hand

Auf den verschnörkelten Reliefs, die beinahe jeden Zentimeter der langen Mauern einnehmen, tauchen immer wieder Apsara-Figuren auf. Rund 2000 dieser barbusigen Tempeltänzerinnen aus Stein bevölkern Angkor Wat. Ihre Pflege liegt in deutscher Hand: Das German Apsara Conservation Project (GACP) ist seit 1995 mit der Restaurierung der Wandschnitzereien in Angkor Wat betraut. Die Deutschen machen einen guten Job, findet Khin Leang – zumindest seien sie behutsamer als ihre Vorgänger. Als mit der Instandsetzung des Tempels Anfang des 20. Jahrhunderts begonnen wurde, säuberten Restaurateure die Wände nämlich mit ätzender Säure. Damit wurde die jahrhundertealte Patina zwar gründlich entfernt – von den Reliefs war danach aber auch nicht mehr viel übrig.

Keine Spur von den Palästen

Nicht nur innerhalb des monumentalen Tempels wird am Wiederaufbau gewerkelt. Auf dem ganzen Gelände Angkors finden sich zahlreiche Baustellen. Forschungsteams aus verschiedenen Nationen haben die Patronage über einzelne Bauwerke übernommen. Und weil sich fast 600 Jahre lang jeder König Kambodschas in Angkor sein eigenes Denkmal in Form eines Tempels schaffen wollte, gibt es auch genug zu restaurieren.
Zum Beispiel Wasserbecken, die so groß sind wie Fußballfelder und als hoheitliche Badewannen dienten. Oder die „Terrasse der Elefanten“, auf der die Königsfamilie unter Pavillons saß und den Paraden und Prozessionen auf dem Vorplatz beiwohnte. Und natürlich Banteay Srei, ein kleiner Tempel rund 30 Kilometer nordöstlich von Angkor Wat entfernt, der bei Touristen vor allem wegen seiner gut erhaltenen Ornamentik und des rosafarbenen Sandsteins beliebt ist. Der Baueifer der Herrscher hat dazu geführt, dass Angkor mit Sehenswürdigkeiten beinahe zugepflastert ist. Von den Palästen der Mächtigen ist dagegen nichts mehr übrig. Sie waren aus Holz, weil Stein als Baumaterial nur für religiöse Gebäude vorbehalten war. Im modernen Kambodscha darf der König durchaus in einem Haus aus Stein wohnen – von der Machtfülle seiner Vorfahren ist er allerdings weit entfernt. Auf dem Thron sitzt derzeit Norodom Sihamoni, der im politischen Alltag eine untergeordnete Rolle spielt. Seine Interessen sind eher musischer Natur: Als junger Prinz genoss er in Osteuropa eine Ausbildung als Balletttänzer, in Paris gründete er sogar seine eigene Tanzgruppe.

Wirtschaftsfaktor und Nationalstolz

Wer herrscht nun über Angkor? Khin Leang sagt, dass 85 Prozent des Eintrittspreises an die kambodschanische Regierung gehen. Von dort aus nimmt der Geldfluss dann wohl verschlungene Wege an...! Die restlichen 15 Prozent des Ticketpreises bekommt die Authority for the Protection and Management of Angkor (APSARA). Sie ist für die Instandhaltung der Anlage verantwortlich, investiert aber auch kräftig in die umliegende Hotellandschaft. Der Wert Angkors lässt sich aber kaum in Prozente aufbröseln – auch wenn die Tempel einen bedeutenden Wirtschaftsfaktor darstellen. Für die Khmer, deren Reich sich einst über weite Teile Südostasiens erstreckte und die im vergangenen Jahrhundert wohl wie kein anderes Volk in der Region gelitten haben, ist Angkor ein Teil ihrer Identität. Khin Leang vergisst nicht, seiner Touristengruppe die Flagge Kambodschas zu zeigen. Sie zieren oben und unten zwei blaue Balken. Dazwischen, auf rotem Grund, prangt die Silhouette von Angkor Wat. Ein Meisterwerk von Menschenhand.

Christoph Stockburger


Name
Nicht verwechseln: Angkor heißt „Stadt“ und bezeichnet die gesamte Anlage, Angkor Wat ist der größte Tempel.
Natur
Die Gegend um Angkor ist das älteste
Naturschutzgebiet Südostasiens. Seit 1925 gilt sie als Nationalpark.
Eine weitere Sehenswürdigkeit in der Nähe von Siem Reap ist der Tonle-Sap-See.
Menschen
Angkor war das Zentrum des Reichs der Khmer. So werden die Bewohner Kambodschas heute noch genannt. Anreise
Die Stadt Siem Reap befindet sich in unmittelbarer Nähe zu Angkor und ist per Bus und Flugzeug zu erreichen.
Einreise
Das Visum kostet 20 US-Dollar. Eintritt
Der Eintritt kostet für einen Tag 20 US-Dollar, für drei Tage 40 Dollar und für sieben Tage 60 Dollar.
German Apsara Conservation Project
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